Auszüge aus Erich Mühsams „Selbstbiographie“
Nicht die äußeren Daten eines Lebenslaufs geben das Bild eines Schicksals, sondern die inneren Wandlungen eines Menschen bezeichnen seine Bedeutung für die Mitwelt. Nur im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen haben die Begebenheiten im Leben des Einzelnen Interesse für die Gesamtheit. (…) Ich betrachte meine schriftstellerische Arbeit, vor allem meine dichterischen Erzeugnisse, nur als das Archiv meiner seelischen Erlebnisse, als Teilausdruck meines Temperaments. Das Temperament eines Menschen ist die Summe der Stimmungen, die Hirn und Herz von den Ausströmungen der Umwelt empfangen. Das meinige ist revolutionär. Mein Werdegang und meine Lebenstätigkeit wurden bestimmt von dem Widerstand, den ich von Kindheit an den Einflüssen entgegensetzte, die sich mir in Erziehung und Entwicklung im privaten und gesellschaftlichen Leben aufzudrängen suchten. Die Abwehr dieser Einflüsse war von jeher Inhalt meiner Arbeit und meiner Bestrebungen.
Im Staat erkannte ich früh das Instrument zur Konservierung all der Kräfte, aus denen die Unbilligkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen erwachsen ist. Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen, Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt, war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens. Ich war Anarchist, ehe ich wusste, was Anarchismus ist; ich war Sozialist und Kommunist, als ich anfing, die Ursprünge der Ungerechtigkeit im sozialen Betriebe zu begreifen. (…)
Meine revolutionäre Tätigkeit hat mich oft mit den Staatsgewalten in Konflikt gebracht. So stand ich 1910 vor Gericht wegen des Versuches, das sogenannte Lumpenproletariat zu sozialistischem Bewusstsein heranzuziehen. Während des Krieges stand ich in den Reihen der Opposition gegen die Lenker der deutschen Schicksale. Wegen der Weigerung, eine Arbeit im vaterländischen Hilfsdienst anzunehmen, wurde ich Anfang 1918 nach Traunstein in Zwangsaufenthalt geschickt, wo ich bis zur Auflösung der „Großen Zeit“ in Niederlage und Zerfall blieb.
Selbstverständlich fand mich die Revolution von der ersten Stunde aktiv auf dem Posten – Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats – Kampf gegen die Konzessionspolitik Kurt Eisners – Teilnahme an der Ausrufung der bayerischen Räterepublik – Standgericht: fünfzehn Jahre Festung.
(…) Im Sommer 1920 erschien mein Gedichtbuch „Brennende Erde. Verse eines Kämpfers“. Auch diese Gedichte sollen Zeugnis des Geistes sein, der die Kunst nicht aus dem Leben herausheben, sondern dem Leben und seinem besten Teil, der Revolution, dienstbar machen will. Der Zweck heiligt die Kunst! Zweck meiner Kunst ist der gleiche, dem mein Leben gilt: Kampf! Revolution! Gleichheit! Freiheit!
(…) In die Zeit, seit ich im Kerker Rechenschaft ablegte über mein Schaffen und Wollen, fällt das Kaspar-Hauser-Erlebnis meiner Rückkehr unter die Menschen, Weihnachten 1924. Ich bemühe mich, in der von der Zäsur des Weltkriegs tief aufgewühlten Welt durch Rede, Schrift und Beispiel auf die revolutionären Ziele hinzuwirken, die aus den vor sieben und acht Jahren geschriebenen Notizen zu erkennen sind. Die Dichtkunst ist nichts als eine meiner Waffen im Kampf.
Heinrich Zille: Erich Mühsam (1910)